Kritik: Vom Nachttisch geräumt

Einfach überwältigend

Ein Geständnis vorweg: Zeit und Ort des erzählten Geschehens – Rom, einige Jahre nach Beendigung des Zweiten Weltkriegs – bewegten mich mehr zum Kauf des Buchs als die „eigentliche Geschichte“ – eine Frau kauft zufällig ein Notizbuch und beginnt eher unwillig, es auch als solches zu nutzen.

Alba de Céspedes erstmals 1952 erschienener Roman Das verbotene Notizbuch tut nichts anderes, als diesen Kauf und das Schreiben auf den weißen Seiten zu dokumentieren. Der Roman ist nichts anderes als das sich ab Ende 1950 bis Mai 1951 füllende Tagebuch. Und genau dadurch gewinnt der Text eine kaum in Worte zu fassende Wahr-haftigkeit und Authenzität. Ein wunderbarer Beleg, was Sprache vermag!

Valeria, um die Vierzig, verheiratet und Mutter, in geordneten Ver-hältnissen der Mittelschicht lebend. Außergewöhnlich ist nur eins: Sie ist in Teilzeit als Sekretärin in einem Büro tätig, was nicht nur Valerias Freundinnen eher unschicklich finden. Dies sei erwähnt, weil das Notizbuch uns heutigen Lesenden von Tag zu Tag beiläufig und unaufgeregt enthüllt, wie sehr sich das Leben einer gut situierten Frau in den besten Jahren in den vergangenen Jahrzehnten verändert oder eben nicht verändert hat. Man(n) schüttelt – befremdet und/oder wiedererkennend – den Kopf, wenn Valeria ihr Eheglück und ihre Familienabhängigkeit schildert, verteidigt und in Frage stellt. Dazu die Sorge um die Teenagertochter, die die nächste Generation und deren Wünsche und Ansprüche verkörpert. Die täglichen Pflichten und die Routine, die Sicherheit geben und einengen. Das verschämte Erkunden unbekannter Wege (auch buchstäblich: unbekannter Gassen auf dem Weg ins Büro) und Vergnügungen (wie dem spontanen Eisessen in fremden Cafés einschließlich waghalsigem Flirt). Und die größte, nahezu in jedem Tagebucheintrag zu findende Angst, das Notizbuch könne entdeckt werden. „Die Wahrheit“ käme zum Vorschein. Denn die Tagebuchschreiberin Valeria selbst ist sich nicht immer sicher, dass sie und die (niedergeschriebene) Valeria identisch sind. Manches notierte Gefühl und Wollen kann sie nicht glauben oder will es nicht wahrhaben.

Mehr will ich nicht verraten. Die Befürchtung, rund 300 Seiten Tagebucheinträge müssten irgendwann langweilig werden, hat sich nicht bewahrheitet. Dieses halbe Jahr im Leben der Ich-Erzählerin Valeria bedeutet Selbstbefragung, irritierende Einsichten, mutige Schritte und viele Zweifel ... und ungekanntes Glück.

Als Schmöker gekauft. Als herausragender und (trotz der Form) vielschichtiger Roman gelesen. Einfach überwältigend. Lesebefehl!

(P.S. Mich würde sehr interessieren, welche Leseeindrücke der Roman bei Frauen hinterlässt.)

Alba de Céspedes: Das verbotene Notizbuch, Insel Verlag 2022 (Original: Quaderno proibito, Mondadori Libri 1952, Übersetzung: Verena von Koskull)

Achtung: Zeitlos und irgendwo

Diesmal ein Leseeindruck vorweg: 1850, 1890, 1920er? In einer vielgestaltigen Großregion wie der zwischen Darmstadt und Pfälzer Wald oder, sagen wir, zwischen den Vogesen und dem nördlichen Burgund? Nein, höchst wahrscheinlich die ersten Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg. Nein, eher ein Fleckchen Erde, das man zu Fuß an einem Tag durchschreiten kann – trotz all der beschriebenen Zinnen, Felsen, Bergpässe, Städtchen, Weiler, Seen, Wälder, Flüsse, Wiesen und Ebenen. André Dhôtel schafft es mit seiner beiläufigen, detailbesessenen, gleichzeitig unscharfen, blumigen und doch realistischen Erzählweise, dass wir uns überflüssige Fragen stellen. Zum Beispiel die eingangs erwähnten.

Sein vor rund siebzig Jahren erstmals erschienener (und jetzt wiederentdeckter) Bernard der Faulpelz fasziniert durch seine Dichte. Das Panoptikum der Figuren reicht vom bürgerlichen „Landadel“ über biedere und selbstzufriedene Rentiers, neureiche oder absteigende Kleinbürger bis zu den am Rand der provinziellen Gesellschaft lebenden Heilern, Hausierern, Bestattern und Tagelöhnern. (Industriearbeiter kommen nicht vor!) Und mittendrin Bernard, der nicht gerade geschäftstüchtig und ehrgeizig, aber durchaus kein Faulpelz ist. Und Estelle, die bezaubernde Schöne, die er hasst. So wie sie ihn. Das eröffnet uns Dhôtel schon nach wenigen Seiten. Doch aufgepasst! Das Geheimnis dieser „Hassliebe“ wird auf den letzten Seiten gelöst. Dagegen wird schon vorher klar, dass all die Gerüchte, Vorurteile, Diffamierungen und Drohungen, mit denen Bernard zu leben und zu kämpfen hat, nicht dessen „Faulheit“, sondern den Händeln und Antipathien und Begehrlichkeiten unter bzw. zwischen all den anderen Provinzlern geschuldet sind.

Dhôtel (1900-1991), in Deutschland kaum bekannt, ist auch für mich eine Neuentdeckung, die Lust auf mehr macht. (Peter Handke schwärmt in seinem Vorwort überschwänglich von Dhôtels Poesie.) Mein Fazit: Nur scheinbar aus der Zeit gefallen. Reizvoll. Eigenartig im besten Sinn des Wortes. Empfehlenswert!

André Dhôtel: Bernard der Faulpelz, Matthes & Seitz 2022 (Original: Bernard le paresseux, Gallimard 1952, Übersetzung: Anne Weber)

Die schwere Leichtigkeit des Erinnerns

Patrick Modiano fasziniert auch mit seinem jüngsten Roman. Die Leichtigkeit seines Erzählens hält bis zur letzten Seite vor. Das vielschichtige und vielgestaltige Erinnern in Unterwegs nach Chevreuse entwickelt einen Sog.

Die Geschichte: Der betagte Ich-Erzähler Jean Bosmans (dem Modiano-Leser durchaus bekannt) geht über ein halbes Jahrhundert zurück in das Paris der 1960er Jahre, in denen er Namen, Wegen, Häusern und Personen wiederbegegnet, die ihn bereits als Kind eingenommen, verführt, geängstigt haben. Rätsel werden gelöst, manche Lösung schafft neue Rätsel. Herausragend ist Modianos Fähigkeit, dem Erinnern und der Erinnerung immer wieder neue Seiten abzugewinnen – und davon auf eine Art und Weise zu erzählen, die großen Lesegenuss beschert.

Patrick Modiano: Unterwegs nach Chevreuse, Hanser 2022 (Original: Chevreuse, Gallimard 2021; Übersetzung: Elisabeth Edl)

Leseempfehlung: Tote Seelen

Wer hat Bambi getötet? Die finnlandschwedische Autorin Monika Fagerholm (im Norden eine literarische Größe, bei uns bis dato kaum bekannt) lässt die Antwort auf diese altbekannte Frage nicht lange im Dunkeln. Das Opfer, die Tat, die Täter und die davon wissenden Anderen sind bekannt. Es gibt ein Strafverfahren. Verbrechen und Urteil liegen schon einige Zeit zurück. Die brutale Gruppenvergewaltigung einer jungen Frau ist schon fast nicht mehr wahr.

Und genau diese Geschichte erzählt Fagerholm in einem ungeheuren, filmreifen Tempo und mithilfe einer kalten und doch bildreichen Sprache. Der Ort? Ein für alten und neuen Reichtum, Niedertracht, Egoismus, Aufsteiger, Brutalität und Skrupellosigkeit stehendes „Villenviertel“. Dazu Sprachlosigkeit, die sich (wir sind in der zweiten Hälfte der Nuller- und Finanzkrisenjahre!) in Lügen, Worthülsen, Redeschwall und Unbarmherzigkeit äußert. Think Tank, Goldfontäne, Geld regiert die Welt, tödliches Schweigen, Schmier- und Schweigegeld, es wird Gras darüber wachsen. Dahinter: Tote Seelen, zerbröselnde Fassaden, Treulosigkeit, Kälte, Mütter, Väter, gute Gesellschaft, eine verlorene goldene Jugend.

Eine brutale Geschichte, die von dem Verbrechen in nur wenigen Worten berichtet (es gibt Fotos und Filmaufnahmen). Auf den meisten der rund 250 Seiten erzählt Fagerholm vom (familiären) „Umfeld“ der jugendlichen Täter und des Opfers, beschreibt die Vorgeschichte und die Nachwehen der Partynacht. Sascha, Gusten, Emmy, Nathan, Saga-Lill, Cosmo. Mir fällt es schwer, meine Lieblingsfigur zu benennen. Verloren sind alle.

 Eine unbedingte Leseempfehlung für alle, die sich von der (vor allem eingangs) verwirrenden Erzählperspektive, den wechselnden Zeitebenen und der (für meinen Geschmack etwas argen Typographievielfalt) nicht schrecken lassen. Ein fulminanter Roman.

Monika Fagerholm: Wer hat Bambi getötet?, Residenz Verlag 2022. (Original: Vem dödade Bambi?, Förlaget, Helsinki 2019; Übersetzung: Antje Rávik Strubel)

 

Lesetipp: Zwei vergangene Welten

 Lutz Seiler: Stern 111, Suhrkamp 2020. Atemberaubend, amüsant und eine gehörige Portion Anarchie. Zwei Geschichten in einer, die der Eltern, die des Sohnes. Gut etablierte DDR-Mittelschicht, ein etwas auffälliger Spross. Die erzählte Geschichte handelt von den letzten Atemzügen vor der Maueröffnung und der so genannten Wende, von diesen wie vom Himmel gefallenen historischen Einschnitten und von der kurzen Zeit danach. Als alles verloren ging und alles möglich schien.

Die Eltern hauen ab, als man nicht mehr abhauen musste. Und das Paar erzählt uns, überwiegend durch die Briefe und Anrufe der Mutter, von seiner Odysee durch die westdeutsche Glitzerwelt und Bürokratie, von Vorurteilen und Offenbarungen. Und von westdeutschen Landschaften, vulgo der Provinz. Wer beispielsweise Bad Ems oder Gelnhausen nicht kennt, lernt es hier kennen. Und die Flucht und Suche ist dort noch lange nicht zu Ende.

Der Sohn bleibt. Ihn zieht es in die gewesene und künftige Hauptstadt. Schönhauser, Oranienburger, Scheunenviertel. Tacheles. Er soll eigentlich das Elternhaus in Gera hüten und flieht in die Hinterhöfe, Abrisshäuser, Katakomben nahe der Mauer. Dort werden Träume wahr, andere geboren. Alltag und Utopie fallen in eins, auch wenn es Dreck und Kotze ist. Eine fantastische Unterwelt, während oben bereits Wessis Projektpläne aushecken, Bagger anrücken lassen, bündelweise Geld (oder Eigentumstitel) auf den Tisch knallen und die zukünftige Stadtlandschaft bereits auf Hochglanz präsentieren.

Ich habe Lutz Seiler erst jetzt entdeckt und dann mit Karacho gelesen. Das Figurenpanoptikum, das Erzähltempo, Tausende Details und der Witz Seilers haben mich überwältigt.

 

Sasha Marianna Salzmann: Im Menschen muss alles herrlich sein, Suhrkamp 2021. Jetzt, wo der Stellungskrieg in der Ukraine tobt, lese ich einen Roman, dessen Handlung in weiten Teilen dort spielt, wo gegenwärtig tagtäglich Russen und Ukrainer ins Gras beißen oder im Matsch verrecken, in der östlichen Ukraine, in der Schwarzmeerregion der ehemaligen Sowjetunion.

Salzmann erzählt eine Geschichte, die mitten in historischen Umbruch- und Abbruchzeiten stattfindet. Über drei Generationen, die leben und erzählen und verschweigen. Der Zeithintergrund: Die stabilen und versteinerten Vor-Gorbatschow-Jahre, die Illusionen und Verwerfungen der Perestroika, das glitzernde Raubrittertum der Jelzin-Zeit. Und dann der Sprung in den Westen und die 2010er Jahre. Hauptfiguren sind die beiden Mütter Lena und Tatjana und deren Töchter Edi und Nina.

Die historisch kurze Zeitspanne der 80er und 90er Jahre prägt und zerreißt das Leben von zwei der vier Hauptfiguren – der Mütter. Salzmann erzählt in wunderbaren Sprachbildern das Leben der Mädchen und dann jungen Frauen Lena und Tatjana. Wir lernen das Glück und die Last kennen, zu russischen, ukrainischen, jüdischen Familien zu gehören. Und Salzmann erzählt von Lenas und Tatjanas Aufbruch nach Deutschland.

Im zweiten Teil des Romans übernehmen die Töchter Edi und Nina die Hauptrolle. Beide sind in Deutschland aufgewachsen, beide wollen mit der Herkunft und Familiengeschichte der Mütter nichts zu tun haben. Von diesem Töchter-Mütter-Konflikt (der auch ein Migranten-Aussiedler-Konflikt ist) erzählt Salzmann eindringlich, doch in einer veränderten Tonlage. Auch die Figurenkonstellation verschiebt sich. Die beiden Romanteile unterscheiden sich. Vereinfachend gesagt: der zweite erscheint „unfertiger“.Der Griff nach Salzmanns Roman war Zufall. Ein Glücksgriff, würde ich heute sagen.

Lesetipp: Meine Frühjahrslektüre

 Edgar Selge: Hast du uns endlich gefunden, Rowohlt 2021. Ein brillantes Romandebüt. Die Kindheitsgeschichte des Autors und Ich-Erzählers, aufgewachsen in einem bildungsbürgerlichen Beamtenhaushalt, im Westfälischen, in der Nachbarschaft von Gefängnissen (der Vater ist dort Direktor). Eine Kindheit und frühe Jugend zwischen ambitionierter „Hausmusik“ (klassisch, Streicher, Klavier usw., mit Gästen) und regelmäßigen Prügelstrafen. Sprachlosigkeit, Wut, Scham, Geheimnisse. Selge erzählt in einem manchmal bitteren, mal humorvollen Ton von sich, seinem Vater, der Mutter, den Brüdern. „Ein Buch für Söhne“ – so würde ich den Lesetipp zusammenfassen, wenn er nur vier Worte zählen dürfte. Verstörend, fesselnd, einfach großartig.

 

Emma Stonex: Die Leuchtturmwärter, S. Fischer 2021, Lizenz: Büchergilde 2021 (Original: The Lamplighters, 2021; Übersetzung: Eva Kemper). Drei Leuchtturmwärter verschwinden auf unerfindliche Weise, gleichzeitig, draußen vor der Küste Cornwalls. Der Autorin gelingt es, das tosende Meer, den weiten Blick bis zum Horizont, den Alltag auf dem Turm, das Innenleben der Wärter sowie die Begierden und Ängste ihrer Frauen miteinander zu verknüpfen. Nichts ist so wie es scheint. Spannend bleibt die Geschichte nicht zuletzt, weil der Roman abwechselnd von 1972 (dem Zeitpunkt des Verschwindens der Männer) und von 1992 (dem Jahr der nachforschenden Interviews mit den Frauen) erzählt. Eine empfehlenswerte Lektüre – nicht nur für Urlaube am Meer.

 

Yasmina Reza: Serge, Hanser 2022 (Original: Serge, 2021; Übersetzung: Frank Heibert und Hinrich Schmidt-Henkel). Wieder seziert Yasmina Reza kammerspielartig das Innenleben einer kleinen, überschaubaren Gruppe von Menschen. Diesmal sind es drei Geschwister im besten Alter: Serge, der titelgebende „homme à femmes“, irgendwo zwischen Genie und krachendem Scheitern; der ausgleichende (und dem Leser/der Leserin immer wieder auf die Sprünge helfende) Ich-Erzähler Jean; die „kleine“ und deshalb von Kindesbeinen an scheinbar am Rand stehende Schwester Nana. Dazu nahestehendes Personal wie die Eltern der Drei oder dessen jugendlicher Nachwuchs sowie angeheiratete bzw. verflossene Liebschaften. Die Widerhaken der amüsanten Geschichte: Die Poppers sind eine jüdische Familie, in der Jüdisch-Sein unterschiedlich gelebt wird. Ein Auschwitz-Besuch voller Tragik und Komik. Rezas Dialoge schneiden ins Fleisch. Jedes Wort „sitzt“. Lesegenuss.

 

Abbas Khider: Der Erinnerungsfälscher, Hanser 2022. Vorweg: Die Hauptfigur Said Al-Wahid hat Ähnlichkeit mit dem Autor. Letzterer erzählt von einem in Berlin lebenden Jung-Schriftsteller, irakischer Herkunft, der einen deutschen Pass sein Eigen nennt. Verheiratet mit Monica, Vater von Ilias. Said Al-Wahid erfährt, dass seine Mutter im Sterben liegt, startet direkt nach einer Lesung in Mainz Richtung Bagdad. Khider berichtet nun nicht nur von dieser Reise, sondern lässt Al-Wahids Erinnerungen an die Kindheit und Jugend, an das Bagdad vor, während und nach den Kriegen wiederaufleben. Doch manche Erinnerung scheint verschollen, andere trügen. Das gilt auch für die Jahre der Flucht durch x Länder, für das Ankommen in Deutschland, für das hiesige Fremd-Sein und das Ringen um das neue Ich. Fazit: Der recht kurze Roman hat etwas Unfertiges. Die vielen arabischen Autoren eigene Erzählkunst macht die Lektüre zu einem Vergnügen.

 

Fundstück: Die Mutter als Frau

Es ist nicht einfach für einen Heranwachsenden von vierzehn Jahren, zu bemerken, dass er eine sexy Mutter hat, die allein durch dieses Wort zu einer Frau wird, die sich der Kindheit entzieht, die jenseits von deren Registern liegt, die eine andere verkörpert, die man nicht mehr kennt…

Jean-Paul Dubois: Jeder von uns bewohnt die Welt auf seine Weise, dtv 2020 (Original: Tous les hommes n’habitent pas le monde de la même façon, 2019)

Ein verstörendes Wieder-gelesen-Erlebnis

Eher aus Verlegenheit ins Regal der gelesenen Bücher gegriffen: Bekanntschaften – Eine Anthologie  (Aufbau, Berlin und Weimar 1976).

Neunzehn Texte, darunter solche von mir schon damals bekannten und von mir bis heute wenig sagenden Autoren und Autorinnen.

Verstörend und aus der heutigen Zeit gefallen die Porträts, die Geschichten, die porträtierten Bekanntschaften und ihr Leben.

Noch verstörender: der eigentümliche Ton unverhohlener Kritik.

Als schaute man sich noch einmal einen uralten Schwarz-Weiß-Film an. Ein verloren geglaubter Genuss… Vergangenheit.

Das Brutale im Alltäglichen und die Suche nach Identität

Deniz Ohde fordert mit ihrem Roman Streulicht (Suhrkamp 2020) viel von ihren Leserinnen und Lesern. Im Kleinen erlebt die Ich-Erzählerin das Große. Und Ohde erzählt mit Kleinem vom Großen. Leserin und Leser sollten vermeiden, den großen Knall zu suchen. Ausgrenzung, ja Rassismus, Schweigen und Erschrecken, ein unbändiger Wissensdurst und Scham, Kraftlosigkeit und Mut... Mir fielen noch mehr Begriffe als Signalwörter ein, die Reihe bliebe wohl trotzdem unvollständig.

Streulicht hat mich wie kaum eine andere Lektüre der letzten Jahre unter Druck gesetzt: dranzubleiben, die Perspektive und Sprache zu begreifen, die sich aufbäumende Lebensgier zu begleiten, gegen vermeintliche Aussichtslosigkeit und Unveränderbarkeit zu verteidigen. Und immer wieder: die alltägliche, flüchtige, ja banale Diskriminierung und Ausgrenzung in ihrer tiefen Bedeutung und nachhaltigen Wirkung zu verstehen.

Ein Mädchen, aufwachsend im von einem Industriepark geprägten Frankfurter Westen. Der Nachname deutsch, der hierzulande weit verbreitete Vorname in ungewöhnlicher Schreibweise. Der Vater deutscher Arbeiter, er neigt zum Alkohol, auch zu Gewalttätigkeiten und zum Sich-Vergraben in festgezurrten Abhängigkeiten, altem Gerümpel und Trostlosigkeit. Die Mutter wurde in der Türkei geboren und ist mit ihren Träumen schon vor vielen Jahren in der Enge des erodierenden alten Industrieproletariats gestrandet. Sie bleibt für die Erzählerin eine Mutmacherin; das stärkste Argument der Mutter: „Du bist Deutsche.“

Ohde beschreibt und beschreibt und beschreibt. Die spröde, ja düstere Sprache Ohdes ist gewöhnungsbedürftig. Unzählige Details, Wohnung, Haus, Nachbarschaft, Straße, Viertel, Schule, Freund und Freundin, die Stadt…, familiäre Abgründe, das Scheitern an Ansprüchen und Codes, das zaghafte Entschlüsseln des Festgezurrten und immer wieder Unverständnis. Nur über das buchstäblich Alltägliche gewinnt die Geschichte über Herkunft, Scham, Ausbruch und Aufstieg an Dynamik.

Ein fulminantes Debüt, außergewöhnlicher Lesestoff, harte Kost. Sehr zu empfehlen.